NEW FILM „HOMELESS“ 2017 Leyla Rodriguez
HD / 05:13 min. / color / stereo
HD / 05:13 min. / color / stereo
Mit einer Reihe von insgesamt sechs Kurz-Filmen entwirft Leyla Rodriguez Sequenzen von Familie und Identität. Vielfach werden dabei eindringliche autobiografische und intime Aufnahmen assembliert und entwickeln den Charakter bewegter Collagen. Ahistorische, mehrdeutige, skurrile Bilder, Musik und Charaktere suggerieren Narrative, die nicht eingelöst werden. Die Filme generieren so keine stringente Zeitauffassung oder Erzählung, sondern bilden in einer Art Endlosschleife variable Einstiegsmöglichkeiten und Lesarten. Als ein übergeordnetes und wiederkehrendes Prinzip erscheint dabei das Verhältnis von Natur, Kultur, Heimat und Heimatlosigkeit und erzeugt eine die Filme überlagernde Melancholie und Sehnsucht.
Leyla Rodriguez stammt aus einer Musikerfamilie. Sie wuchs während der von 1976 bis 1983 andauernden Militärdiktatur in Argentinien auf und immigrierte 1984 schließlich nach Deutschland. Während Teile der Familie in Argentinien verblieben, wanderten andere nach Amerika, Brasilien und Australien aus, und der ehemals enge Verbund verlor sich in kleinen Gruppen. Ein Gefühl der Identitätslosigkeit und einer für immer verlorenen Heimat blieb.
Verschiedene Mitglieder der Familie werden Film um Film musikalisch integriert und bilden einen Schwerpunkt der Erzählung, ohne dabei selbst in Erscheinung zu treten. An ihrer Stelle übernehmen verschiedene Aufnahmen von Landschaft, Wild- und Hausieren sowie Rodriguez selbst — verkleidet als vermummte Gestalt, als Hybrid zwischen Tier, Mensch und Textil — abstrakte Personifikationen. Alte Melodien, teils von Familienangehörigen komponiert, werden durch neue ergänzt und tragen die bildnerischen Erzählungen. Klangfolgen dominieren die verschiedenen Szenen, verknüpfen diese und werden zu Hauptakteuren.
Ein Großteil des filmischen Materials zeigt Ausschnitte aus dem Alltag der Künstlerin und entwirft eine vom Zufall geleitete, beiläufige Struktur. In der Erweiterung oft seltsam anmutender Aufnahmen, ergeben sich zwischen den Bildern ästhetische Verwandtschaften und erzeugen eine Parallelwelt zwischen Ordnung und Unordnung. Das Medium Film changiert dabei zwischen fotografischen, malerischen und performativen Episoden und verhindert eindeutige Kategorien.
Homeless greift die Methode aus Interior Season auf und zeigt hintereinander gereihte Aufnahmen von bunten Tischdecken im urbanen Raum. Zu einer melancholischen Melodie auf der Laute beginnt der Film mit einer Fahrt über ein glitzerndes, blaues Meer, in dem ein Seehund in der Sonne dümpelt. Vereinzelt aufgebrochen durch Aufnahmen von Regenwald und einer vorbeiziehenden Berglandschaft, werden im Rhythmus der Musik unterschiedliche bunte Tischdecken auf Mauern, Mülltonnen oder Containern in verschiedenen Städten und zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten gezeigt.
Wie Plakate sind die Decken mit Kleister an die Mauern gebracht und setzen sich in ästhetische Nachbarschaft ihres meist bunt bemalten Untergrundes oder neben ihnen befestigten Schildern. Teilweise wiederholen sich die Orte aber wie in einer sich immer schneller um die eigene Achse drehenden und strudelnden Bewegung verschwimmt ihr Kontext und lässt allein die bunten Tischdecken noch deutlich erkennen. Sie werden zu Botschaften und Kommentaren ihres Umfeldes und entspringen einer während der Diktatur in Argentinien entwickelten Tradition: Hier wurden weiße Plakate an die Stadtmauern geklebt, versehen mit schwarzen Umrissen vermisster Freunde und Verwandte. Aus dieser Kindheitserinnerung heraus wird die Stadtmauer als Kommunikationsmittel zum prägenden Aspekt für die Künstlerin und zieht sich wie auch die Tischdecken als Konstante durch alle Filme. Die Decken gehören zu ausrangierten Gegenständen der ehemaligen DDR, einem Land, dass nicht mehr existiert. Einst Schmuck oder Schutz von Tischen, werden sie im urbanen Raum zu Bildern und Ornamenten und verweisen auf etwas, das auf alle Zeit absent ist. Die abschließende Sequenz in Homeless zeigt die Figur in rosaner Daunenjacke und Eselsmaske wie sie zwei der Tischdecken, zu Fahnen umfunktioniert, hin und her schwenkt und schließlich vor einer schweren verschlossenen Tür zurücklässt.
von Rosa Windt